Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren viele Lebensbereiche massiv verändert, einiges erleichtert und manches riskanter gemacht. Sie ist ein ambivalentes Phänomen mit Chancen und Risiken. Die Unternehmenskommunikation verdankt der Digitalisierung ihrer Medien einen bunten Strauß neuer Möglichkeiten. Die Kommunikation der Unternehmen steht aber als soziale Praxis angesichts wachsender Erwartungen an die Rolle von Unternehmen im Markt und in der Gesellschaft vor großen Herausforderungen. Zentral ist dabei das Problem der Erschaffung und Erhaltung von Vertrauen in den Zeiten der Digitalisierung.
Die Digitalisierung ist ein allgegenwärtiges Schlagwort. Kaum eine Nachricht aus der Politik und der Wirtschaft verzichtet auf den Hinweis, dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche verändert oder gar ‚revolutionieren‘ wird. Und so verwundert es nicht, dass laut Google Trends die Nachfrage nach dem Suchbegriff ‚Digitalisierung‘ kontinuierlich wächst und sich seit 2014 verzehnfacht hat. In der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in der Politik werden mit der Digitalisierung viele Hoffnungen verknüpft, aber auch Ängste geweckt. Viele sehen in ihr die Chance auf neue Geschäftsfelder, steigende Effizienz und wachsende Gewinne. Manch einer fürchtet jedoch, bei der digitalen Transformation von Prozessen aller Art und ihres disruptiven Potentials den Anschluss zu verpassen. Somit stehen wir vor der Frage, wie die Digitalisierung nicht nur die Wertschöpfung der Unternehmen, sondern auch ihre Kommunikation verändert, und welche Chancen und Risiken darin zu erkennen sind.
Digitalisierung
Zweifellos hat die Digitalisierung in den letzten Jahren viele Branchen und Unternehmen massiv verändert. Erkennbar waren diese Veränderungen zuerst in der Musik-, Medien- und Fotoindustrie, dann im Handel, bei Banken und Versicherungen, in der Unternehmensberatung, bei Logistikunternehmen und Automobilherstellern (vgl. Matzler, 2016 und Schallmo, 2017). Große Unternehmen wie Kodak, Blockbuster, Nokia und Bertelsmann sind untergegangen oder mussten sich radikal verändern, neue Unternehmen wie Amazon, Alphabet und Facebook entstanden durch die Digitalisierung oder konnten wie Microsoft, Apple und Netflix von ihr profitieren, weil sie früh verstanden haben, sich anzupassen (vgl. Westermann, 2011). Insofern ist die digitale Transformation für Unternehmen sowohl eine Revolution als auch eine Evolution.
Zumeist wird die digitale Transformation im Bereich technologischer Veränderungen beschrieben, etwa bei SMAC-Technologien (vgl. Evans, 2017), von der Informationstechnik (Vernetzung via Social Media) über die Planung (Virtual und Augmented Reality) bis zur Produktion (Robotik, künstliche Intelligenz, 3D-Druck), aber auch bei Big Data-Analysen (vgl. Reichert, 2014 und Pigni et al., 2016) und beim sogenannten Internet der Dinge in unseren Häusern, unseren Autos und unserer Kleidung (vernetzte SMART-Technologie der Datensammlung und -analyse; vgl. Wildbihler, 2017), und schließlich beim Marketing an den Schnittstellen zwischen Unternehmen und Kunden (vgl. Berman, 2012, Leipzig, 2017, Lammenett, 2017 und Kreutzer, 2018).
Angesichts der rasanten technischen Entwicklungen sind die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft groß. Die Digitalisierung soll die körperlichen Belastungen der Menschen in der Industrie und in den Krankenhäusern durch den Einsatz von Robotern erleichtern, die Lieferung von Lebensmitteln und Konsumgütern bis an die Haustüre durch Zustellroboter und Drohnen beschleunigen sowie den Individualverkehr durch von Algorithmen gesteuerte Autos sicherer machen.
Allerdings gibt es auch Ängste vor dieser Zukunft. Wenn man in der Literatur und im Film nach Zukunftsvisionen sucht, so findet man vor allem Warnungen vor einem unreflektierten und unbegrenzten Einsatz der Technik: Der Große Bruder in George Orwells 1984 (1949), der Roboter HAL aus Stanley Kubricks 2001 (1968), das Netzwerk V.I.K.I. in Alex Proyas‘ I, Robot (2004) und natürlich die KI Skynet aus der Terminator-Reihe. Allesamt populäre Symbole für die Bedrohung menschlicher Freiheit und des Überlebens der Menschheit angesichts einer übermächtigen Technologie.
Neben diesen Dystopien findet sich aber auch eine bekannte Utopie in der Fernseh- und Kinoserie Raumschiff Enterprise, in der ein zentraler Computer Fragen jeder Art beantworten und ein sogenannter Replikator problemlos Objekte jeder Art herstellen kann: Lebensmittel, Kleidung und technische Geräte. Auch wenn die Menschen in dieser Zukunftsvision viele Probleme nicht mehr haben und ohne Geld auskommen mögen, so ist ihre Gesellschaft jedoch hierarchisch-militärisch organisiert und es gibt weder Politik noch Parteien, weder Unternehmen noch Marken. Nicht jeder mag diese Vision uneingeschränkt für eine Utopie halten.
Wo stehen wir heute mit der Digitalisierung? Die bekanntesten Beispiele sind sicherlich Amazons Echo bzw. Alexa. Sie liefern auf Zuruf Konsumgüter, Kochrezepte, Poesie und sogar Witze. Google sagt uns, wo sich morgen der Autoverkehr stauen wird und wo im nächsten Winter genug Schnee für den Skiurlaub liegen wird. Smarte Uhren kontrollieren nicht nur unsere Fitness, sie erkennen auch einen Herzinfarkt und alarmieren den Notarzt. Die sogenannte künstliche Intelligenz in Computertomografen kann gutartige von bösartigen Tumorzellen unterscheiden und Therapien empfehlen.
Problematischer wird die Digitalisierung, wenn sie unsere Autonomie beschneidet: Die Apps Amy und Julie können im Netzwerk mit anderen Computern unsere Termine selbstständig planen und koordinieren – und verwalten unsere Lebenszeit. Stitch Fix kuratiert unseren Modegeschmack, indem ein Algorithmus berechnet, was uns gefällt und zu uns passt, und uns regelmäßig neue Kleidung zuschickt (vgl. Ramge, 2018). Viele Einkauf-Apps verraten uns, welche Lieblingsprodukte heute im Angebot sind und wann wir wieder welches Shampoo kaufen sollten. Und die populären Partner-Apps berechnen, wer zu uns passt und wen wir deshalb treffen sollten.
Derartige Beschränkungen der Willens- und Handlungsfreiheit sind für einige Menschen nur schwer zu akzeptieren. Gänzlich übergriffig werden die Algorithmen, wenn diese über Leben und Tod entscheiden sollen. Dies betrifft nicht nur die vermeintlich autonomen Autos, die in Dilemma-Situationen die Entscheidung treffen sollen, ob ein einzelnesKind oder eine Gruppe von Rentnern das ‚kleinere Übel‘ sind (hierzu Rommerskirchen, 2017). Es betrifft auch die Algorithmen von Aspire Health, einer US-amerikanischen Firma, die zusammen mit Google ein Bewertungssystem für Patienten in Krankenhäusern entwickelt hat. Der Algorithmus berechnet auf der Grundlage der Patientendaten, ob er in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr sterben wird – ob sich also eine (kosten-)intensive medizinische Versorgung noch lohnt (vgl. Lobe, 2017). Und es betrifft sicherlich auch jene Roboter und Drohnen, die das Militär in Kriegseinsätze schicken will, um dort selbstständig Menschen zu töten (vgl. Misselhorn, 2018).
Unternehmenskommunikation
Auch in der Kommunikation von Unternehmen werden zunehmend von Algorithmen gesteuerte Anwendungen eingesetzt. Künstliche Intelligenz identifiziert Menschen aufgrund der Art und Weise ihrer Tastatureingaben und empfiehlt Produkte aufgrund vergangener Einkäufe und der Vorlieben vermeintlich ähnlicher Konsumenten. Chatbots imitieren menschliche Berater und helfen Kunden bei der Suche nach dem passenden Angebot, wenn sie Kleidung, ein Hotel oder eine Bahnverbindung suchen. Automatisierte Programme schreiben individualisierte Pressemitteilungen für Journalisten mit spezifischen Themeninteressen. Noch ist die Fehlerquote bei all diesen Anwendungen jedoch zu hoch, um ‚echte‘ Menschen zu ersetzen – beispielsweise konnten Social Network Chatbots von Facebook etwa 70% der an sie gerichteten Anfragen nicht zufriedenstellend beantworten (vgl. Sun, 2017).
Ein grundlegendes Problem dieser technischen Anwendungen ist die Komplexität menschlicher Kommunikation, die von Algorithmen lediglich basal simuliert werden kann. Menschliche Kommunikation ist immer soziales Handeln, ihr Ziel ist die Ermöglichung von Kooperation. In der Praxis des sozialen Handelns (vgl. Weber, 2008, S. 3) dient die Kommunikation mittels körperlicher und sprachlicher Zeichen der Darstellung der Intentionen eines Wesens gegenüber einem oder mehreren anderen. Die Intention ist dabei auf kooperatives Handeln in einer sozialen Beziehung (vgl. a. a. O., S. 19) ausgerichtet, ihr Ziel ist die Beeinflussung der Gedanken und Handlungen des oder der anderen. Voraussetzung hierfür ist die kognitive oder emotionale Antizipation der Interpretationen des Gegenübers und daher müssen alle in sozialen Gemeinschaften lebende Wesen auch interpretierende Wesen sein, das heißt, sie müssen in der Lage sein, phänomenale Dinge (vgl. Blumer, 2013) wie Laute, Bilder, Handlungen und Situationen als Symbole mit konnotativen Bedeutungen sowohl selbst zu verstehen als auch deren ähnliche oder abweichende Bedeutungen für andere als mögliche Erwartungen vorwegzunehmen.
Soziale Wesen wie Menschen sind daher immer interpretierende Wesen und alles Wissen ist das Resultat der individuellen Interpretation wahrgenommener Sinnes-Daten (hierzu Popper & Eccles, 1991, S. 511f.). Eng damit verknüpft ist die spezifisch menschliche Autonomie und damit die Freiheit, eine Haltung als selbst-verpflichtenden normativen Status zu entwickeln (vgl. Brandom, 2000, S. 252ff.). Aus diesem normativen Status heraus erfolgen Zuschreibungen von Eigenschaften und Wertungen über individuelle Dinge, aus den normativen Einstellungen erfolgen derartige Zuweisungen über kollektive Dinge. Welchen Beitrag die sogenannten Spiegelneuronen hierzu leisten (siehe hierzu Rizzolatti & Sinigaglia, 2007 und Keysers, 2011) und ob es Formen geteilter Intentionalität gibt (vgl. Tomasello, 2012 und 2014), kann hier nicht diskutiert werden und bedarf weiterer Forschungen.
Eine wesentliche normative Voraussetzung muss jedoch noch genannt werden: die Wahrhaftigkeit der Kommunikation. Die Teilnehmer des sozialen Handelns müssen der Ansicht sein, dass sie eine wahrhaftige Intention darstellen beziehungsweise andere diese als wahrhaftig ansehen. Soziales Handeln und Kommunikation wären ohne diese normative Voraussetzung schlichtweg sinnlos, da sie – zumindest langfristig – nicht zu Kooperationen führen würden. Eine Täuschung oder eine bewusste Lüge mag ein oder zwei Mal erfolgreich sein, danach wird dem Lügner jedoch das Vertrauen entzogen werden. Ohne normatives Konto (vgl. Brandom, 2000, S. 247) wird ihm das Aufrechterhalten einer sozialen Beziehung und die Herbeiführung von Kooperationen künftig zumindest stark erschwert.
Unternehmenskommunikation unterscheidet sich in einigen Punkten hiervon. Zunächst einmal handelt es sich nur in wenigen Fällen tatsächlich um eine soziale Beziehung, in den allermeisten Fällen sind es parasoziale Beziehungen (hierzu Horton & Wohl, 1956) zwischen dem Unternehmen und den Konsumenten. Für den einzelnen Konsumenten ist das Unternehmen eine Persona, der er Eigenschaften, Wertungen und vielleicht sogar Gefühle zuschreibt und für die er in seinen parasozialen Interaktionen ein normatives Konto führt. Umgekehrt betrachtet ‚das Unternehmen‘ beziehungsweise der einzelne Mitarbeiter als Agent der Korporation (vgl. Rommerskirchen, 2015) den Konsumenten ebenso als Persona, mag er auch eine Vielzahl an Daten und Modellen über die Individuen besitzen.
Daraus folgt eine zweite Unterscheidung: Unternehmen und Konsumenten begegnen sich im Markt in ihren Rollen und sind in ihren Austauscherwartungen „darauf eingestellt“ (Weber, 2008, S. 35), dass der jeweils Andere rollenspezifische Interessen hat, die seine Wert- und Nutzenbeiträge bezüglich des Produkt- und Kundennutzens prägen (vgl. Schmid & Lyczek, 2008, S. 71ff.). Die der Kommunikation zugrundeliegenden Intentionen sind daher beiderseits durch die jeweiligen Rollen und Austauscherwartungen gerahmt, sie formen und begrenzen die strategischen Kommunikationen der Konsumenten und der Agenten der Unternehmen. Auf Seiten der Unternehmen mag diese strategische Kommunikation auf die Ausweitung der Wirtschaftlichkeit oder der Legitimität ausgerichtet sein (vgl. Zerfaß, 2014, S. 24ff.), auf Seiten der Konsumenten dagegen auf die Maximierung des rationalen, ökonomischen Nutzens oder die emotionale, soziale Positionierung im gesellschaftlichen Feld (vgl. Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013, S. 458ff.).
Veränderungen
Blickt man auf die letzten zwanzig Jahre zurück, so hat sich die Unternehmenskommunikation massiv verändert. Die Veränderungen sind vor allem bei den technischen und damit medialen Möglichkeiten der Kommunikation offensichtlich. Der Prozess der Digitalisierung umfasst hierbei die weltweite Verbreitung des Internets, der Computer und Mobiltelefone und der damit verknüpften Anwendungen in Webbrowsern und auf Kommunikationsplattformen. Diese ermöglichten zunächst die rasante Globalisierung und Beschleunigung von Kommunikationen, dann eine immer stärkere Interaktivität zwischen Unternehmen und ihren diversen Anspruchsgruppen wie Kunden, Mitarbeitern, Lieferanten, Medienvertretern, Investoren und so weiter. Die Steigerung der Interaktivität führte zu einem permanenten medialen Austausch über den funktionalen und symbolischen Wert der Arbeit von Unternehmen. Dies führte und führt seit einigen Jahren zu einer dritten Steigerung, der Steigerung der Erwartungen an die Unternehmen.
Die Anspruchsgruppen und insbesondere die Konsumenten erwarten von den Unternehmen eine schnelle, verlässliche und verbindliche kommunikative Interaktion. Sie erwarten eine Antwort auf ihre Fragen, Informationen über die Pläne und eine transparente Aufklärung über die Handlungen des Unternehmens. Kurz gesagt: Sie erwarten, dass das Unternehmen mit ihnen kooperiert und sie mit ihren Ansprüchen als Markt-Partner respektiert. An dieser Stelle wird sichtbar, dass die Digitalisierung in den letzten Jahren nicht nur die Technik der Kommunikationsmedien verändert hat, sondern auch die technische Kultur der modernen Gesellschaft und deren soziale Praktiken (hierzu Blumenberg, 2015 und Reckwitz, 2017, S. 225). Drei wesentliche Veränderungen der sozialen Praktiken durch die Digitalisierung sind:
Affektation
Erkennbar ist die Übersteigerung des Emotionalen und Affektiven in der Kommunikation (hierzu Pörksen, 2018). Unternehmen bereichern ihre Produkte und Leistungen mit einer emotionalen Geschichte und Narrativen, die auf die affektive Aktivierung der Konsumenten abzielen (vgl. Boltanski & Esquerre, 2018, S. 35f.). Konsummärkte werden auf einen Ort reduziert, auf dem lediglich Bedeutungen und Imaginationen gehandelt werden (vgl. Beckert, 2018, S. 300). Produktinformationen werden auf affektsteigernde Symbole reduziert (vgl. Reckwitz, 2017, S. 238), die Emotionalisierung und Personalisierung beispielsweise durch CEO-Kommunikation befördert die Debattenkultur in den sozialen Medien, in denen es vor allem um die Darstellung der ‚richtigen‘ Haltung zum ‚richtigen‘ Zeitpunkt geht. Parallel dazu schätzen Konsumenten die Produkte nicht mehr wegen ihrer Funktionalität, sondern lieben sie für ihre Einzigartigkeit und die besondere Bedeutung, die sie für ihren Lebensstil haben (vgl. Fröhling, 2017). Die stillschweigende beiderseitige Anerkennung der Notwendigkeit der Affektation angesichts der zunehmend konformen Produktwelt unterstützt dabei die wuchernde Infantilisierung des Marktes und der Konsumenten (hierzu Barber, 2007).
Elaboration
Unternehmen und Konsumenten bemühen sich, ihre Kollaboration auf möglichst vielen Gebieten deutlich zu machen und einander zu übertreffen. Man entwickelt gemeinsam neue Produkte und optimiert die schon bestehenden, trifft sich auf Wettbewerben um den besten Claim und das beste Konzept zur Nachhaltigkeit und überbietet sich mit moralischen und politischen Haltungen zu den wichtigen Fragen der Zeit (Stehr, 2007 und Kemming, 2019a). Im Zeitalter des Kulturkapitalismus (Misik, 2007) ist die Elaboration ein wichtiges Element, da sie bezeugt, dass das Unternehmen und die Konsumenten sich tatsächlich bemühen, jeden Lebensbereich in die „grundlegende und genuine Kulturökonomisierung des Sozialen“ (Reckwitz, 2017, S. 107) überführen zu wollen. Das Öffentliche und das Private, politische und moralische Präferenzen, Lebenskonzepte und ethische Überzeugungen dienen gleichermaßen der Inszenierung der Identität von Unternehmen und von Konsumenten (hierzu Rommerskirchen, 2019).
Performation
In der Informationsgesellschaft wird die Kapazität zur Verarbeitung von Informationen zum Engpass bei der Kommunikation zwischen Unternehmen und Konsumenten: Die entscheidende Ressource heißt Aufmerksamkeit (vgl. Franck, 2014). Im Kampf um Aufmerksamkeit wird die wahrnehmbare Präsenz in den digitalen Medien zur Frage des Überlebens – wer hier sichtbar ist, wird beachtet, wer nicht, wird missachtet. Das Maß der Beachtung oder Missachtung hängt nicht zuletzt von der Inszenierung der dargebotenen Authentizität und der Dramatisierung der eigenen Meinung und des Anliegens ab. Dabei geht es weder um Geltungsansprüche noch um begründete Argumente im Diskurs, sondern um einfache Urteile und schnelle Wertungen, die schlichte Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen. Es geht, wie Reckwitz betont, um „Valorisierungswettbewerbe“ und die Positionierung in den „Attraktivitätsmärkten der Einzigartigkeiten“ (Reckwitz, 2017, S. 245). Das Ziel der Kommunikation ist nicht mehr die Ermöglichung von Kooperation, sondern die Performance der strategischen Identität im digitalen Rollenspiel. Angesichts der knapper werdenden Ressource Aufmerksamkeit wird das Impression Management der performativen Authentizität – für Unternehmen und Konsumenten gleichermaßen – zum eigentlichen Nucleus der Kommunikation in den Zeiten der Digitalisierung.
Rollen und Konflikte
Im Anschluss an die Individualisierungsprozesse der zweiten Moderne (vgl. Beck & Beck-Gernsheim, 1994) wirkt die Digitalisierung auf die sozialen Praktiken wie ein zweiter Treibsatz und befördert die Infantilisierung der Gesellschaften und der Märkte im Kulturkapitalismus in neue Höhen. „Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Männer und Frauen sind nur Spieler. Die haben ihren Abgang, ihren Auftritt; und mit der Zeit spielt ein Mann viele Rollen“ (Shakespeare, 1995, II/7). Dies gilt heute auch für Unternehmen und Konsumenten, und die Digitalisierung ermöglichte jene Medien, die als Bühne der Inszenierung dienen (hierzu Goffman, 2007, S. 23). In diesem Spiel hat alles eine Bedeutung, sobald es auf der Bühne inszeniert werden kann.
Dies bedeutet dann auch: Die ludische Gesellschaft erwartet von den Unternehmen nicht nur Rollenspiele auf der Bühne des Marktes, vielmehr hat die Digitalisierung der Kommunikationsmedien dazu geführt, dass die Menschen von den Unternehmen immer mehr erwarten: Die Unternehmen und ihre Arbeit, ihre Produkte und Leistungen, sollen nicht mehr nur dem Konsum dienen, sondern auch dazu beitragen, das Leben der Menschen zu verbessern und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Unternehmen sollen nicht nur Konsumbedürfnisse mit funktionierenden Produkten befriedigen, sondern auch eine soziale Verantwortung übernehmen für ihre Mitarbeiter, die weltweiten Zulieferer und deren Mitarbeiter, die Schonung von natürlichen Ressourcen und die Erhaltung der Artenvielfalt sowie den besonderen Lebensstil, die Gefühle und das Glück der Menschen in einer zunehmend multikulturellen und diversen Gesellschaft.
Dieser Eskalation der Erwartungen kann vermutlich niemand gerecht werden. Je mehr Rollen ein Unternehmen auf den Bühnen der gesellschaftlichen, politischen und medialen Selbstdarstellung zeitgleich spielen muss, um so unvermeidlicher sind Rollenkonflikte, die dann sowohl innerhalb einer Rolle als auch zwischen den verschiedenen Rollen auftreten (hierzu Merton, 1957 und Dahrendorf, 2010, S. 74). Wer zeitgleich alle Share- und Stakeholder, die Schüler auf den ‚Fridays For Future‘-Demonstrationen und die Hedgefonds-Manager, den Betriebsrat und die Wirtschaftspolitiker in Land und Bund, die 30-jährige gutausgebildete Berufseinsteigerin und den langzeitarbeitslosen 60-jährigen Frührentner glücklich machen will, sollte sich gut überlegen, zu welchen gesellschaftspolitischen Themen er sich wie äußert. Da durch die Digitalisierung der Medien auch die Trennwände zwischen Vorder- und Hinterbühne (vgl. Goffman, 2007, S. 104) aufgehoben sind, ist eine Klärung der Rolle und möglicher Konflikte hinter der Bühne immer unwahrscheinlicher. Längst wird schon live von dort berichtet und auch die vertraulichsten Abstimmungen werden öffentlich bewertet.
Dass die Gesellschaft von den Unternehmen Positionierungen und Haltungen erwartet, bestätigen aktuelle Befragungen: Ein Drittel der Befragten erwartet von Unternehmen eine politische Haltung (vgl. JP-KOM, 2018) und jeder zweite fordert von den Unternehmen eine Haltung zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Themen wie Umweltschutz, technologischem Wandel, Armut oder Zuwanderung (vgl. Lambertin, 2019). Zwei von drei Befragten haben schon einmal ein Unternehmen und deren Produkte aus politischen Gründen boykottiert, bei den 40- bis 49-jährigen sind es sogar 75% (JP-KOM, 2018).
Auf der anderen Seite wächst die Bereitschaft der Unternehmen, diesen Erwartungen zu entsprechen. In den USA protestieren Konzerne wie Nike mit der Wahl von Colin Kaepernick als Markenbotschafter oder die Unilever-Tochter Ben & Jerry’s mit ihrer Pecan-Resist-Eiscreme gegen ihre Regierung und deren Politik (vgl. Kemming, 2019b). In Europa distanzieren sich Unternehmen wie Frue Fruits, Fisherman’s Friend oder Edeka mit ihren Kampagnen von nationalistischen und protektionistischen Strömungen und CEOs wie Jo Kaeser (Siemens), Paul Polman (Unilever), Götz Werner (dm) und Tim Höttges (Telekom) treten offen für beziehungsweise gegen politische Positionen ein (diese und weitere aktuelle Beispiele bei Mattias & Kemming, 2019).
Anfang der 1970er Jahren behauptete der libertarianische Ökonom Milton Friedman noch, dass die einzige Verantwortung der Unternehmen die Steigerung ihrer Profite sei (vgl. Friedman, 1970) und die shareholderorientierte Institutionenökonomik wollte den ökonomischen Menschen in einem rationalen Markt von den Zwängen sozialer Komplexitäten erlösen. Manager wie Jack Welch (General Electric) in den USA und Jürgen Schrempp (Daimler-Benz) in Deutschland waren ebenso wie der US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher lautstarke Verfechter eines libertären Marktes.
Heute fordert Larry Fink, Chef von Blackrock und mit 6,5 Billionen US-Dollar größter Investor der Welt, dass Unternehmen einen sozialen Zweck (purpose) haben müssen und einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten sollen, in denen sie arbeiten und Geld verdienen. Fink droht in einem Brief den Geschäftsführern der Unternehmen, in die er die Vermögen seiner Kunden investiert, dass er künftig nur jene unterstützen werde, die ein nachhaltiges gesellschaftliches Engagement zeigen (Fink, 2018) beziehungsweise den sozialen Zweck und den Profit ihres Unternehmens als untrennbar miteinander verknüpfte Geschäftsstrategien erkennen (Fink, 2019).
Rollenstress und Vertrauen
Insofern sehen wir auf allen Seiten – Unternehmen, Konsumenten, Vorständen und Investoren – immer weiter wachsende Erwartungen und Reaktionen darauf. Viele Unternehmen haben dies bereits erkannt und kooperieren bereitwillig mit allen Gruppen und deren Erwartungen. Wie gefährlich dieser Drahtseilakt aber sein kann, haben Unternehmen wie Facebook, Cambridge Analytica, Deutsche Bank oder Volkswagen erfahren. Ihre Vertuschungen und Lügen, ihre Manipulationen und Defektionen haben nicht nur ihre Glaubwürdigkeit und ihre Reputation beschädigt, sondern auch massive wirtschaftliche Verluste nach sich gezogen.
Die Digitalisierung schafft Chancen und Risiken. Zu den Risiken für die Unternehmenskommunikation gehört sicherlich der Vertrauensverlust. Die Gründe hierfür sind in der Soziologie schon in den 1960er Jahren beschrieben worden. Je komplexer gesellschaftliche Prozesse und die Zusammenhänge zwischen Kultur, Markt und Politik werden, desto mehr Rollen müssen in diesen Gesellschaften vom Einzelnen gewählt, aufgebaut und bedient werden. Und grundsätzlich muss jedes Unternehmen hierbei den Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Legitimität (hierzu Zerfaß, 2014), ökonomischer Rentabilität und sozialer Verantwortungsübernahme (hierzu Rommerskirchen, 2018) schaffen. Da jeder dieser Rollen spezifische soziale Erwartungen gegenüberstehen, aus denen wiederum neue Rollen und Erwartungen erwachsen, dreht sich die Spirale immer weiter und höher. Die Komplexität der Rollen steigt, die Erwartungen werden schwerer zu erfüllen, die Rollen werden zur Posse und es folgen unvermeidlich Enttäuschungen und Frustrationen (vgl. Linton, 1945, S. 53).
Auf die Eskalation der Erwartungen und Enttäuschungen folgt dann ein Rollenstress (vgl. Goode, 1960), dem Menschen sich durch belastungsmindernde Mechanismen wie Hierarchisierungen ihrer Pflichten und Wertungen oder Vermeidung kognitiver Dissonanzen zu entziehen versuchen. Der Ausweg aus dem Rollenstress lautet somit Komplexitätsreduktion, und die kommunikative Interaktion muss den Konsumenten vor allem der Freund-Feind-Unterscheidung dienen: Erfüllst du meine Erwartungen oder nicht? Bist du mein Freund oder mein Feind?
Angesicht der Rollenkomplexität folgt die Enttäuschung früher oder später zwangsläufig, da kein Unternehmen jede Rolle zur allseitigen Zufriedenheit ausfüllen kann. Auch wenn die Produkte und die Produktionsbedingungen die hohen Erwartungen erfüllen, eines Tages wird ein Lieferant eine Komponente falsch etikettieren, werden die Manager ihre Boni fordern und wird das Unternehmen seine Preise erhöhen müssen. In nutzenorientierten Austauschbeziehungen und vor allem in sozialen, emotional motivierten Gemeinschaftsbeziehungen, welche die Unternehmen mühsam zu ihren Konsumenten aufgebaut haben, öffnet sich dann die Schleuse zu einer fatalen Wirkungskette: Die Konsumenten fühlen sich getäuscht, kündigen dem Unternehmen die Freundschaft, beschädigen seine Reputation durch negative Äußerungen in den sogenannten sozialen Medien und misstrauen zunächst dem Unternehmen, dann der Branche und schließlich dem Markt und immer mehr gesellschaftlichen Institutionen (hierzu die Studien von Fajer & Schouten, 1995, Aggarwal, 2004, Aaker, Fournier, & Brasel, 2004 und Elliott & Yannopoulou, 2007).
Aus der Rekonstruktion dieser destruktiven Wirkungskette erklärt sich dann auch – zumindest zum Teil – der massive Vertrauensverlust in Deutschland und den allermeisten Ländern der Welt gegenüber nahezu allen Institutionen (vgl. GfK-Verein, 2019 und Edelman, 2019). Misstrauen ist die Standardeinstellung gegenüber Unternehmen, Managern und Werbung. Vertrauen ist deshalb heute der Heilige Gral der Unternehmenskommunikation – jeder kennt ihre Bedeutung, niemand weiß, wie und wo man es findet. Angesicht der Relevanz des Themas – Vertrauen ist nicht nur wesentlich für den Wohlstand von Gesellschaften (vgl. Ortiz-Ospina & Roser, 2019), sondern auch die Voraussetzung für erfolgreiche Reputationsbildung, Loyalität und Wirtschaftlichkeit eines jeden Unternehmens (vgl. Rommerskirchen & Woll, 2015) – ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Konstrukt Vertrauen erstaunlich unterentwickelt und nur selten ein Thema auf den vielen Branchentreffen (eine Ausnahme ist Botsman, 2019). Da das Vertrauenkonstrukt als philosophisches, psychologisches und soziologisches Querschnittsphänomen eine interdisziplinäre Forschung und eine hohe Abstraktionsfähigkeit bei der differenzierten Betrachtung von rationalem, emotionalem und habituellem Vertrauen fordert, bleibt es für die alltägliche Praxis der Unternehmenskommunikation vermutlich auch weiterhin ein sperriges Thema (hierzu Bartling, Fehr, Huffman, & Netzer, 2018). Nichtsdestotrotz müssen sich Unternehmen und Wissenschaftler weiterhin verstärkt und gemeinsam um das komplexe Konstrukt Vertrauen bemühen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Ergebnis einer aktuellen Befragung. Zwar befürworten viele Menschen eine Haltung von Unternehmen zu gesellschaftspolitischen Fragen (siehe oben), jedoch hält nur ein Viertel der Befragten und nur 15% der befragten Studenten diese kommunizierte Haltung für wichtig für die persönliche Meinungsbildung (vgl. Lambertin, 2019). Und wiederum ein Viertel aller Befragten und sogar 38% der Studenten haben kein Problem damit, Produkte von Markenunternehmen zu kaufen, deren kommunizierte Haltung ihrer persönlichen Meinung widerspricht (ebd.). Die Vermutung liegt nahe, dass viele Konsumenten angesichts des geringen Vertrauens in die Unternehmen deren kommunikative Bemühungen um Positionierungen lediglich für ein unterhaltsames Schauspiel halten, welches keine realen Auswirkungen auf ihre Einstellungen und Präferenzen mehr hat. Dies ist, wie gesagt, eine Vermutung – es wäre jedoch für die strategischen Wirkungsabsichten der Unternehmenskommunikation ein bedrohliches Signal.
Ambivalenz der Digitalisierung
Die Digitalisierung ist ein ambivalenter Prozess, sie bietet den Menschen viele Chancen, birgt aber auch erhebliche Risiken. Die Digitalisierung technischer Geräte und Medien hat die Kommunikation beschleunigt und globalisiert, auf der ganzen Welt können Menschen sich untereinander austauschen und miteinander kooperieren. Unternehmen nutzen diese Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz und Effektivität in der Kommunikation mit ihren Anspruchsgruppen. Die Digitalisierung hat die Wirtschaftlichkeit und die Legitimität der Unternehmen in den letzten Jahren erheblich gesteigert.
Für die Unternehmenskommunikation in den Zeiten der Digitalisierung eröffnen sich aber auch Risiken. Dazu gehören neben der Manipulation von Meinungen und der Kulturökonomisierung vor allem der Verlust von Vertrauen in Institutionen und Unternehmen. Für die Kommunikationsmanager in Unternehmen und deren Berater ist die Rückgewinnung und Stärkung des Vertrauens in die Unternehmen und deren Kommunikationsarbeit ein wesentliches Thema und ein fundamentales Problem. Bei aller Begeisterung für die Fortschritte der Digitalisierungsprozesse in technischen Geräten darf die soziale Praxis der Kommunikation nicht auf der Strecke bleiben. Die menschliche Kommunikation ist weiterhin eine soziale Praxis und nicht digitalisierbar. Lediglich die Medien der Kommunikation werden von der Digitalisierung erfasst und massiv verändert. Die soziale Praxis bleibt aber wesentlich für die Unternehmenskommunikation und ihre zentralen Aufgaben, und dazu gehören weiterhin die kommunikative Erzeugung und Verbreitung von Informationen und Wünschen, Reputation und Vertrauen.
Ein Ausweg aus den Dilemmata, die die kontrastierenden Erwartungen an die Unternehmen – egoistische Nutzenmaximierungen versus soziale Gefühlslagen – und an die Konsumenten – Wirtschaftlichkeit versus Legitimität – bereitstellen, wäre die Stärkung des rationalen Vertrauens als Grundlage des darauf aufbauenden emotionalen und habituellen Vertrauens. Für dieses rationale Vertrauen müssten die Unternehmen (wieder) sagen, was sie tun wollen und können, und tun, was sie gesagt und versprochen haben. Sie müssten kommunizieren, welche Erwartungen sie erfüllen wollen und können, und welche Erwartungen sie nicht erfüllen wollen und können. Die Konsumenten müssten sich entscheiden, ob sie von den Unternehmen Produkte erwarten, die ihre Konsumbedürfnisse befriedigen, oder ob sie erwarten, dass die Unternehmen und deren Produkte für ihr soziales Wohlbefinden und ihre Glückgefühle verantwortlich sind. Alle Erwartungen zugleich werden weder von den Unternehmen noch von den Konsumenten erfüllt werden können.
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