Malte Albrecht: Virtual Reality in der Flüchtlingshilfe

Das Thema des geschilderten Projektes ist die Integration von Geflüchteten. Anhand einer VR-Anwendung werden Szenen im virtuellen Raum dargestellt, die in der Realität eine Herausforderung für die Geflüchteten darstellen (z.B. Arztbesuch / Wohnungsanmeldung). Es werden die relevanten lerntheoretischen Hintergründe, technischen Voraussetzungen und mögliche Effekte erläutert. Ziel des Projektes ist, den möglichen Nutzen des VR-Einsatzes und die möglichen Vorteile gegenüber einem 2D-Lehrfilm wissenschaftlich zu untersuchen

Dieser Übersichtsartikel soll zum einen die bisherigen Bemühungen im Bereich der Virtual Reality in der Flüchtlingshilfe darstellen, und zum anderen einen Ausblick auf die kommenden Studien der Arbeitsgruppe geben. Hierbei werden interkulturelle Aspekte sowie die bisherige Forschung in diesem Feld thematisiert.

VR zur Entlastung von ehrenamtlichen Helfern

Mit ca. 1,9 Millionen Asylanträgen seit 2010 in Gesamtdeutschland, haben die Bundesländer eine enorme Anzahl von Verfahren zu bearbeiten und hohe Integrationsarbeit zu leisten. Hierbei ist zu beachten, dass ein Großteil der Integrationsarbeit von ehrenamtlich Tätigen und gemeinnützigen Organisationen bewältigt wird, was einen hohen Personaleinsatz erfordert. Damit wird deutlich, dass eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung erkennbar ist. Der Einsatz und die Arbeit setzt Qualifikation, Sensibilität, Geduld und Offenheit voraus. Die freiwillige ehrenamtliche Tätigkeit von den Integrationshelfern soll durch den Einsatz von VR-Technologie unterstützt werden. Es soll nun kurz erläutert werden, wie es zu der Idee kam und wie sie weiterentwickelt wurde: Prof. Christopher Wickenden (Leiter des Skip-Instituts, Köln) konnte zusammen mit seinem Team im Jahr 2017 die Idee weiterentwickeln, die Integration von Flüchtlingen durch den Einsatz von VR-Technologie zu unterstützen. Als Ansatzpunkt wurden die Berichte der Flüchtlingshelfer genommen: Bei vielen alltäglichen Wegen oder Behördengängen zeigen sich Geflüchtete verunsichert und bitten um Begleitung und Unterstützung. Die Idee war, typische Situationen – die verunsichernd auf die Geflüchteten wirken – in VR-Szenen zu übertragen (z.B. Besuch beim Arzt, Wohnungsanmeldung etc.). Diese VR-Szenen sollten als Vorbereitung für die wirkliche Situation dienen. Anhand einer Stichprobe von 25 Geflüchteten konnte eine VR-Szene (Arztbesuch) getestet werden. Die Resonanz der Geflüchteten war sehr positiv – 76% sahen die VR-Situation als Bereicherung für die Integration an und als Unterstützung für den Spracherwerb. 76% zeigten sich offen für den Einsatz von VR in der Lehre. Zudem waren 96% der Meinung, dass sie durch den Einsatz von VR mehr erfahren und lernen können. Dieses Pilotprojekt wurde 2017 von der Landesregierung gefördert. Aufgrund der guten Ergebnisse bestätigte sich die ursprüngliche Vermutung, dass VR eine geeignete und sinnvolle Unterstützung in der Flüchtlingshilfe sein könnte. 2018 erfolgte eine weitere Finanzierung für ein neues Projekt zu dieser Thematik. Dieses Projekt hat zunächst zum Ziel, den Einsatz der VR-Technik – wissenschaftlich abgesichert – zu rechtfertigen. Im Rahmen einer Studie soll die Wirkung der VR-Anwendung gegenüber einem dargebotenen 2D-Lehrfilm verglichen werden. Im Folgenden sollen die zugrundeliegenden Interkulturellen Ansätze diskutiert und ein Ausblick gegeben werden, auf welche Weise die psychologische Forschung in das Projekt mit eingebunden ist.

Theoretische Grundlagen – Interkulturelle Forschungsansätze

Aus kulturpsychologischer Sicht können die Situationen, die den Geflüchteten Respekt ab zollen als Situation der interkulturellen Begegnung eingeordnet werde. Genkova et al. (2013) hat in Bezug auf interkulturelle Begegnungen viele relevante Studien zusammengetragen, auf die sich im Folgenden bezogen wird. Genkova (2013) merkt an, dass die interkulturelle Situation durch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beteiligten Kulturen geprägt ist. Daher kommt es zu einem Austausch und einer prozesshaften Weiterentwicklung der Kultur (Strohschneider, 2009) – auch innerhalb der sozialen Situationen. Es entwickelt sich nicht nur die Kultur weiter, sondern die Beteiligten verändern ihre Einstellung, ihr Verhalten, indem sie sich mit der Situation neu identifizieren und Handlungsroutinen erlernen (Gröschke, 2009). Bolten (2008b) fasst diesen Prozess folgendermaßen zusammen: In der interkulturellen Situation ist es die Herausforderung, eine Plausibilität zu schaffen, die von allen geteilt wird. Die Plausibilität bezieht sich auf neue Normalitätsroutinen und gemeinsame Zukunftsvisionen (Bolten 2008b). Fernerhin werden formelle wie auch informelle Regeln ausgehandelt für den Umgang miteinander ausgehandelt, die auch Normen und Werte umfassen (Bolten, 2008b, in Genkova, 2013).
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Umgang mit heterogenen, mehrdeutigen Situation (Gröschke, 2009). Die Kulturen unterscheiden sich im Umgang mit Ungewissheit und Ambiguität (Gudykunst & Nishida, 2001). Individuen mit niedriger Ambiguitätstoleranz erfahren mehr Stress und vermeiden mehrdeutige Stimuli (Furnham & Ribchester, 1995). Daher birgt die interkulturelle Kommunikation das Risiko des Missverstehens und des daraus resultierenden Konfliktes (Matsumoto, Leroux & Yoo, 2005).
Dieser Überblick zur bisherigen interkulturellen Forschung sollte verdeutlichen, in wie fern der Einsatz eines VR-gestützten Trainings sinnvoll erscheint: Das Erlernen von neuen Handlungs- und Normalitätsroutinen sowie das Schaffen einer neuen Plausibilität im Ankunftsland könnte in der VR-Situation in einem geschützten Raum trainiert werden. Bei der Beschreibung des aktuellen Forschungsdesigns werden wir auf die interkulturellen Aspekte nochmals rekurrieren. Zunächst soll noch ein Überblick zu der VR-Technik und ihrem didaktischen Mehrwert gegeben werden.

VR – Entwicklung bis zum heutigen Stand

Den Anfang der VR-Technik kann man im Grunde genommen auf die Erfindung des Polaroid-Filters von Physiker Edwin Herbert Land im Jahr 1932 zurückgeführt werden (McElheny, 1999). In 3 D-Filmen wird heute noch dieser Filter verwendet. Als ein weiterer Meilenstein kann das Sensorama angesehen werden – der erste, wenn auch passive VR-Automat zu diesem Zeitpunkt (Pimentel & Teixeira, 1993). Er wurde 1962 von Morton Heilig gebaut. Comeau & Bryan erfanden schließlich 1961 das erste Head-mounted Display (Comeau & Bryan, 1961). Ein System, das annähernd die Grundzüge heutiger VR-Anwendungen trägt wurde von der NASA 1987 entwickelt (Fisher et al. 1987). In den Jahren zwischen 1990 und 2012 gibt es Fortschritte in der Weiterentwicklung, jedoch erst 2013 kann die Firma Oculus eine VR-Brille weltweit auf den Markt bringen, die den heutigen Standards vergleichbar scheint.

Immersion und Präsenz bei der VR-Erfahrung

Bei der Nutzung von VR-Technologie kann die erlebte Immersion (aus dem Lateinischen immersio = eintauchen) besonders intensiv sein. Das Konzept beschreibt hier das Eintauchen in die virtuelle Umgebung. Das Eintauchen in Vorstellung und Geschichten und andere Medien ist ebenfalls möglich – wie beispielsweise bei Büchern oder dem TV-Konsum. Jedoch unterscheidet sich die hier gemeinte Immersion bei der VR-Erfahrung qualitativ von den zuletzt genannten Zugängen. Slater et al. (2009) haben für den Grad der erreichten Immersion Parameter zusammengestellt: Field of View, Framerate, Latency, Stereo / Mono View, Stereo / Mono Sound, Head Tracking, Supported Haptics etc.
Die Autoren grenzen allerdings die Aussagefähigkeit der genannten Parameter ein, da die theoretischen Voraussetzungen zwar treffend benannt werden, allerdings nicht die emotionale Komponente der Immersion ergründet werden kann. Um einen Vergleich mit der Literatur zu ziehen: Die Anzahl und Vielfältigkeit der Wörter und Idiome kann groß sein, jedoch lässt das keinen Rückschluss auf die Originalität und die mögliche Immersion in die Geschichte zu. Also sind die aufgeführten Parameter lediglich eine notwendige Bedingung, um Immersion in der VR-Erfahrung zu ermöglichen. Dazu kommt die emotionale Erlebenskomponente: Die Interaktion in der VR-Erfahrung sollte authentisch vermittelt und die Interaktionspartner realitätsnah angesprochen werden können, sowie entsprechende Reaktionen zeigen. Kommen diese beiden Komponenten (technische Voraussetzungen und emotionale Erlebenskomponente) zusammen, dann verbindet das Gehirn das Erlebte zu einem stimmigen emotional-gefärbten Erlebnis und ein sog. „Break in Presence“ wird möglich (Freeman et al., 2003). Auf diese Präsenz soll im Folgenden eingegangen werden, da sie eng mit dem Konzept der Immersion zusammenhängt.

Die Präsenz beschreibt das Gefühl, dass die virtuelle Umgebung als real wahrgenommen wird (Steuer, 1993). Nach Wirth & Hofer (2008) ist „Präsenzerleben ein subjektives Phänomen …, das auf komplexen Konstruktions-und Wahrnehmungsprozessen beruht, empirisch fassbar ist und medien- wie rezipientenbezogene Komponenten aufweist.“. Nach Ijsselsteijn & Riva (2003) kann die Präsenz auf zwei Ebene beschrieben werden: Zum einen die physische Präsenz, die vermittelt, dass man sich in einer Umgebung befindet. Zum anderen die soziale Präsenz, also das Gefühl, dass man mit einem Gegenüber interagiert und zusammen einen Raum teilt. Wenn beide Ebenen gleichzeitig erlebt werden, sprechen Ijsselsteijn & Riva (2003) von einer Co-Präsenz.

Falls die VR-Erfahrung als realer oder scheinbar realer Raum wahrgenommen wird, kann sie darüber hinaus Emotionen im Nutzer hervorrufen. Frijda merkte 1988 bereits an: „What is taken to be real elicits emotions“ (Frijda, 1988, S. 352).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine gut durchdachte und handwerklich überzeugende VR-Welt eine erfolgreiche Immersion und eine erlebte Co-Präsenz erzeugen kann.

VR-Technik & neue didaktische Möglichkeiten

Die eingesetzten didaktischen Medien sollten eine sich den Lebenswirklichkeiten der Adressaten annähern (Lievrouw et al., 2000). Die mehrheitlich jungen Erwachsenen sind wie auch in unserer Bevölkerung mit neueren Medienformen sozialisiert worden (Kahnwald et al., 2013). Die VR-Technik ist seit wenigen Jahren auf dem Vormarsch und erlaubt eine Verknüpfung mit dem Ansatz der konstruktivistischen Lerntheorie:
Der Konstruktivismus geht auf die Mathematiker Brouwer und Heyting (Heyting, 1935) zurück. Laut Edelstein und Hoppe-Graff (1993) besteht „die kognitive Entwicklung … nicht in einem passiven Erfahrungszuwachs, sondern in einem aktiven Aufbau kognitiver Strukturen“. Es wird also die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt betont. Weiterentwickelt wurde der Konstruktivismus im psychologischen Feld u.a. von v. Förster (1998), v. Glaserfeld (1998), Watzlawik (1998) und Maturana (1998). Reich (2006) grenzt die konstruktivistische Didaktik ein, indem er die sozial-kulturelle Lernumgebung und die eigene Steuerung des Lernenden im Lernprozess hervorhebt. Somit konstruiert der Lernende sein Wissen selbstgesteuert. Overmann (2002) trifft den Kern des konstruktivistischen Lernens, indem er folgendermaßen argumentiert: „Der Lerner begreift nur, was ihn in seiner Persönlichkeit ergreift, und es ergreifen ihn nur Gegenstände, die ihn in seinem Lebensumfeld als Herausforderung erschüttern.“ (Overmann, 2002). Hier könnte eine Brücke zu den VR-Ausführungen im vorangegangen Abschnitt geschlagen werden. Wenn die VR-Erfahrung als Realität oder realitätsnah wahrgenommen werden und es zu einer Immersion und erlebten Co-Präsenz kommt, könnten die Aussagen von Overmann (2002) und Frijda (1988) einen neuen Sinnzusammenhang ergeben: Wenn eine VR-Erfahrung die genannten Merkmale aufweist, könnte sie im Sinne der konstruktivistischen Lerntheorie ein optimales Medium zur Vermittlung von gesellschaftlich-praktischen Inhalten sein.
Um die mögliche didaktische Rolle von VR-Anwendungen im konstruktivistischen Kontext weiter auszuführen, soll auf Anmerkungen von Prensky (2011) und Mikos (2011) kurz eingegangen werden: Prensky (2011) sieht in der Anwendung von VR-Technik die Chance das soziale und bürgerschaftliche Engagement zu stärken, da die VR-Anwendung eine „motivierende Art“ hat. Mikos geht einen Schritt weiter und spricht von einer „neue(n) Handlungsmächtigkeit beim Lernen“, wenn VR in den Lernprozess integriert ist.

Beim VR-Einsatz in der Flüchtlingshilfe kann – unter Berücksichtigung der ausgeführte konstruktivistische Lerntheorie – ein neueres didaktisches Modell adaptiert und angepasst werden: Jank & Meyer (2002) haben didaktische Modelle kreiert und „Neun W-Fragen“ der Didaktik postuliert. Im Kontext des VR-Einsatzes in der Flüchtlingshilfe können diese W-Fragen angepasst werden und weiterhin als Orientierung dienen: Wer? – Flüchtlinge, die sich im Integrationsprozess befinden. Womit? – Mit Hilfe von VR-Brillen, d.h. konkret mittels eines interaktiven 360° Films, der kritische, dem Flüchtling bevorstehende, Situationen thematisiert. Wozu? – Integration erleichtern, um Ängste zu nehmen, Aufzuklären und zu Informieren und darüber hinaus um den Lernerfolg auf konstruktivistische Weise zu maximieren. Wie? – Durch Interaktion in der virtuellen Welt. Somit wird das Konzept des Erfahrungslernens gestärkt. Neuerlerntes wird direkt angewendet, mit bereits bestehendem Wissen verknüpft und somit gefestigt. Wo? – In der Virtuellen Realität: Beim Amt im Zuge der Wohnungsanmeldung, in einer Wohnung zur Wohnungsbesichtigung, in einem Verein, in einer Situation des Kontaktes mit der Polizei/dem Ordnungsamt etc. Mit wem? – Primär selbstständig durch die Rollenübernahme in der VR-Welt. Man lernt durch die Interaktion in der virtuellen Realität den Kontext kennen. Und man lernt über sich selbst in der virtuellen sozialen Situation. Der Flüchtling übernimmt während der Experience die Rolle seines „Zukunfts-Ichs“. Von wem? – Von sich selbst bzw. den eigenen Erfahrungen in der virtuellen Welt, u.a. durch Versuch und Irrtum (Erfahrungslernen) und durch die Mitwirkenden im Film, die als Lernbegleiter fungieren. Was? – Es wird angemessenes und kompetentes Handeln in zunächst herausfordernden Situationen aufgezeigt und die Selbstsicherheit gestärkt. Dieser Handlungsrahmen wird im Optimalfall zum Transfer genutzt wird, und kann somit langfristig weitere Lebensbereiche bereichern. Wann? – Bevor man die im VR-Film behandelte Situation in der Realität bewältigen muss. Diese Fragen dienen als didaktische Orientierung bei der Planung der Untersuchung.

Aktuelles Wohlbefinden

Nach Becker (1991) ist das aktuelle Wohlbefinden durch das momentane Erleben von positiven Gefühlen, Stimmungen und physischen Empfindungen geprägt. In der geplanten Untersuchung spielt das aktuelle Wohlbefinden eine maßgebliche Rolle: Können positive Emotionen mit einer zunächst fremden und respekteinflößenden sozialen Situation verknüpft werden? Somit wäre bei den Probanden die Hemmschwelle erniedrigt, die virtuell präsentierte Situation im realen Leben selbstständig anzugehen. Es stellt sich die Frage, ob durch eine geglückte Immersion und erlebte Co-Präsenz somit ein höheres Wohlbefinden erreicht werden kann. Genauer gesagt – schafft die VR-Erfahrung ein höheres Maß an aktuell messbarem Wohlbefinden als der alternative 2D-Lehrfilm.

Forschungsfrage

Im Zentrum der aktuellen Arbeit steht zunächst die wissenschaftliche Absicherung zum Nutzen des VR-Mediums. In der kommenden Studie soll untersucht werden, ob die Lerneffekte und das subjektive Wohlbefinden sich stärker beim Einsatz von VR-Technik verbessert, als wenn ein konventioneller Lehrfilm eingesetzt wird. Dabei sollen die angeführten technischen Voraussetzungen (hoher Grad an Immersion und ausgeprägte Co-Präsenz) sowie die didaktischen Ideen (konstruktivistische Lerntheorie und W-Fragen angelehnt an Jank & Meyer, 2002) Berücksichtigung finden.

Methodik

Um die Forschungsfrage zu beantworten wird eine Experimental-, sowie eine Kontrollgruppe anhand einer Pre-Post-Test Befragung untersucht:
Beide Gruppen sollen zunächst zu soziodemographischen Daten befragt werden. Anhand der Daten können Unterschiede in den Einschätzungen bezogen auf die Parameter Alter, Geschlecht, Herkunft und bisheriger Aufenthaltsdauer untersucht werden. Im Anschluss daran werden sie um eine Einschätzung von einer herausfordernden sozialen Situation im Alltag gebeten (4-Stufige Likert Skala, von „Ja, natürlich“ bis „Überhaupt nicht“, Beispiel-Item: „Würden Sie sich zutrauen, in Situation xy alleine zu sein?“).

An diesem Punkt werden die beiden Gruppen getrennt. Die Experimentalgruppe bekommt eine VR-Brille und agiert in der vorher angesprochenen sozialen Situation in der VR-Welt. Dort kann sie sich entweder oberflächlich oder eingehend mit den Interaktionspartnern auseinandersetzen und erlebt im Idealfall die Immersion und eine Co-Präsenz.

Der anderen Kontroll-Gruppe wird ein 2D-Informationsfilm zu dieser sozialen Situation gezeigt. Danach werden beide Gruppen wieder zu ihrer Einschätzung der sozialen Situation befragt und ob sie sich zutrauen würden, alleine diese Situation zu bewältigen. Dies ist Teil der Post-Test Befragung. Abschließend beantworten sie den PANAS-Fragebogen zum aktuellen Wohlbefinden (Fünfstufige Likert-Skala von „ganz wenig oder gar nicht“ bis „äußerst“, Beispiel-Item: „Geben Sie bitte an, wie Sie sich im Moment fühlen.“, Beispiel-Adjektive – „bekümmert“, „freudig erregt“). Sinn und Zweck des Fragebogens ist es das direkte aktuelle Wohlbefinden nach der VR-Erfahrung und dem 2D-Film vergleichen zu können. Um die Qualität der VR-Erfahrung einschätzen zu können, wird abschließend konkret nach der Einschätzung der virtuellen Welt und den Interakteuren in der VR-Erfahrungen gefragt (Beispiel-Item: „Wie war die Atmosphäre an dem virtuellen Ort?“, verschiedene Adjektive zur Auswahl, positive bis negative). Somit könnte neben der technischen auch die interaktionale Komponente bewertet werden, die das Empfinden einer Co-Präsenz nach Ijsselsteijn & Riva (2003) erst ermöglichen.

Hypothesen
Ziel der Studie ist es, herauszufinden, ob die VR-Erfahrung signifikante Vorteile gegenüber einem konventionellen 2D-Lehrfilm bietet. Anhand der gerade ausgeführten Methodik lassen sich vier Hypothesen ableiten, die die Frage beantworten sollen:

1. Die Einschätzungen vor der VR-Erfahrung unterscheiden sich nicht signifikant von denen der Kontrollgruppe.

2. Das aktuelle Wohlbefinden unterscheidet sich signifikant von dem der Kontrollgruppe.

3. Die Einschätzungen nach der VR-Erfahrung unterscheiden sich signifikant von denen der Kontrollgruppe.

4. Die Verweildauer korreliert mit den Wohlfühlaussagen über die VR-Erfahrung.

Zukünftige Forschungsfragen

Falls sich bestätigen sollte, dass die VR-Anwendung der Schulung durch einen 2D-Film überlegen ist, stellen sich weitere Forschungsfragen:
In wie fern kann der Einfluss der sozialen Erwünschtheit während der Beantwortung der Fragen kontrolliert werden? Wie kann der Umgang mit Stress in Alltagssituationen verbessert werden und welche bisherigen Coping-Strategien (Eisenberg, Fabes & Guthrie, 1997) liegen vor? Diese lassen sich anhand des Response to Stress Questionnaire (Connor-Smith, Compas et al., 2000) und der Ways of Coping Checklist-Revised (WCCL-R) (Vitaliano et al. 1985) erheben. Eine weitere Möglichkeit wäre, die interkulturelle Kompetenz an Hand weiterer VR-Situationen zu trainieren und Coping-Strategien gegebenenfalls anzupassen. Ein wichtiges Thema ist die kulturell gefärbte Emotionsregulation – wie wirkt sie sich aus, wie kann sie gegebenenfalls reflektiert und angepasst werden? Hierbei kann auf das Konzept der kulturell abhängigen Emotionsregulation (Holodynski & Friedlmeier, 2006) Bezug genommen werden. Die Emotionsregulation kann mit dem FEEL-E (Fragebogen zur Erhebung der Emotionsregulation bei Erwachsenen) von Grob & Horowitz (2014) erfasst werden. Fragen, die sich in diesem Kontext stellen wären: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich bei emotionalen Reaktionen auf Ereignisse in der sozialen Interaktion? Welche typischen emotionalen Reaktionsmuster können nähergebracht werden? Dabei führen komplexere Bewertungen einer sozialen Situation zu divergierenden emotionalen Reaktionen, weil die kulturellen und moralischen Normen hier stark wirken (Mesquita, Frijda & Scherer, 1997). Der Stellenwert des emotionalen Erlebens einer Emotion scheint dabei von Kultur zu Kultur unterschiedlich zu sein (Friedlmeier, 2010).

Nicht zuletzt wäre ein wichtiger Punkt, auf welche Weise Traumata von Geflüchteten durch den Einsatz von VR-Situationen therapiert werden können. Hier wurde bereits eine Kooperation mit der Universitätsklinik Bonn eingegangen, um mit den Mitarbeitern der VR-Therapie Arbeitsgruppe an Ansätzen zu arbeiten.

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